10.12.2024, Kultur & Freizeit
Bilder erzählen uns Geschichten
Sanna Konda betrachtet das Bild von José Luis Mazarío, das in der Alten Apotheke aktuell ausgestellt ist.
Foto: Stadt Walldorf
Gastkünstlerin Sanna Konda zu Besuch in der Alten Apotheke
Dass die Bilder der Ausstellung „Korrespondenz“ nicht nur miteinander sprechen, sondern auch uns Geschichten erzählen, verrät mir Hartmuth Schweitzer, der langjährige Kunstbeauftragte der Stadt Walldorf. Das macht mich neugierig. Die warmen, dunkel-melancholischen Bilder von José Luis Mazarío und die hellen, kalkulierten von Emilio González Sainz sind gleichermaßen reizvoll und bilden einen spannungsreichen Kontrast in der Ausstellung des Kunstvereins in der Alten Apotheke. Und sie erzählen tatsächlich Geschichten. Sie erzählen diese Geschichten nicht nur mir, sondern allen, die genau hinschauen.
Drei künstlerisch tätige Menschen, deren poetischem Geschick ich vertraue, habe ich nach Geschichten gefragt, die aus diesen Bildern heraus kommend von ihnen erzählt werden wollen. Die folgenden vier Geschichten – die letzte stammt von mir – empfehle ich zur Lektüre direkt in der Ausstellung. Spazieren Sie am Sonntag mit dieser Ausgabe der Walldorfer Rundschau unterm Arm in die Alte Apotheke (geöffnet von 14 bis 17 Uhr), schauen Sie die Bilder an und lesen Sie die Geschichten dazu, es lohnt sich!
[Wenn die Bilder Ihnen auch Geschichten erzählen, sind Sie hiermit herzlich eingeladen, sich an unserem kleinen Projekt, diese Geschichten zu sammeln, beteiligen. Machen Sie ein Selfie mit dem Bild, das mit Ihnen geplaudert hat, schreiben Sie Ihre Geschichte auf, und senden beides an armin.roessler@walldorf.de]
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Lina Thiede: Säure (zum Bild von José Luis Mazarío: Ácido)
Auf dem Tisch liegt mein Unterleib. Ich habe ihn dort in den Morgenstunden abgelegt. Er fühlte sich an, als hätte man ihn in Säure getränkt. Ganz ansehnlich liegt er da, die Beine rasiert, die Unterhose sitzt, der Schein trügt. Wo weißer Stoff meine Hüfte umschmeichelt, krallt sich der elastische Spitzenbund in meine Haut und verbirgt, was sich andere offenbart haben.
Damit sich das nicht wiederholt, liegt mein Unterleib jetzt hier, wird er hier liegen bleiben, bis ich ihn wieder an mir spüren kann.
Ich dachte immer, sollte etwas von mir mit der Zeit und den Blicken verschwinden, wäre es mein Hintern, aber tatsächlich waren es die Füße. Mit jedem geifernden, begierigen Drängen der anderen, lösten sie sich auf. Hätte ich meinen Unterleib an meinem Körper gelassen, ich hätte keinen Schritt mehr tun können.
Die Füße sind immer das erste, sagte meine Freundin. Ohne Füße kommst du nicht weit. Und Füße mögen sie sowieso. Mein Blick hängt zwischen meinen Beinen, auf dem dünnen Stoff, der mich bedeckt. Ich sollte eine Decke holen und noch mehr Lagen auf mich legen, sodass sich nichts anderes mehr auf mich legen kann. Ich sollte meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass ich nicht zum Abendessen kommen werde, dass es nicht gut wäre, so das Haus zu verlassen. Ohne festen Stand.
Mutter? Hast du auch schon einmal Teile von dir abgenommen, um wieder klarzukommen?
Mutter sagt: Nein, wieso? Sie wisse auch gar nicht, wie das ginge.
Und ich sage: Ich will nie wieder weiße Unterwäsche tragen, dieses Weiß, das ist eine Idee, die sich die anderen ausgedacht haben, da bin ich mir sicher.
Ich will nicht mehr sehen, wie das Blut auf weißem Grund aussieht, wie es sich festsaugt und mir fremde Muster bildet.
Ich will hier sitzen bleiben, mich bewachen, bis ich die Säure nicht mehr spüren kann.
Mutter, hast du dich schon einmal selbst betrachtet?
Nein, sagt sie, ich habe immer weggeschaut.
[Lina Thiede lebt als Schriftstellerin in Köln, ihr sehr empfehlenswerter Debütroman heißt "Homo Femininus".]
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Marcus Heim: Ascénsion (zum Bild von Emilio González Sainz: Ascénsion)
Als ich im März 2008 mit dem Fahrrad von Santiago de Compostella nach Santander fuhr, hatte ich für Aufstiege nicht mehr viel übrig. Auf dem Weg zum europäischen Ende der Welt hatten sich die Pyrenäen und die Sierra Madre tief in meine Knochen eingeschrieben – in Santander wartete nun ein Boot auf mich. Ein Traum.
Ein Drama verlangte die Landschaft noch von mir, und das war eine Abschussfahrt in Richtung Küste. Bei übertrieben großer Geschwindigkeit fand sich eine nasse Stelle. Ich erinnere mich noch gut an die hellbraune Farbe dieser Erde, auf der ich seitlich ins Rutschen kam. Tiefschwarz war später der wie ein Salatkopf nach allen Seiten hin ausfleddernde blaue Fleck auf meinem Oberschenkel, und in meiner Ferse mischte sich schwarzes Kettenöl mit dunkelrotem Blut.
Glimpflich genug ging die Sache aus, sodass ich noch weiterfahren und weiterträumen durfte. In einer kurzen Pause stand ich auf einem Promontorium und übersah ein kleines Tal, und das ungeheure Grün zwischen den Bäumen lud mich ein: ich solle mich kurz hinlegen.
Für diese Reise wollte ich mich aussetzen, dem Wind, dem Wetter, mich mir selbst zumuten, und das scheint mir der Mensch dort zwischen den Bäumen auch zu tun. Er hat sein Haus verlassen, liegt dort zwischen den Bäumen. Wahrscheinlich hat er die Nacht erwartet, sich nach ihrer Kälte und etwas Mysterium gesehnt. Ich vermute, dass er vor dem Hereinbrechen der Nacht wieder ins Haus verschwinden wird. Das wohlige Gefühl, dem Nebel beim Auslöschen der Bäume zuzusehen, wird, wenn er vernünftig ist, umschlagen in die blanke Angst, selber ausgelöscht zu werden. Das ist die größte Gefahr, aber auch zugleich der größte Wunsch: Sich selbst nicht mehr wieder zu erkennen. Sollte er seinen Wagemut nicht verlieren, kann er etwas anderes werden. Dann wird ihn die Formlosigkeit, die die Bäume bereits befallen hat, mit dem Himmel diffus in Farbe und Schattierung vereinen.
Darüber fliegt ein Vogel: Ich weiß nicht, ist es der größte Wunsch des Träumers, als Ergebnis der Verwandlung? Oder ist der Vogel bloß für uns gedacht, als Aussicht auf den wahr gewordenen Traum, an den der Mensch dort auf dem Boden vielleicht gar nicht mehr glaubt?
Der Wanderer steht an der Grenze und imaginiert sich in den Himmel, ganz anthropomorph und seiner sicher, stell er sich seine Auflösung vor. Da ist ein ästhetischer Gewinn zu haben, ein offensichtlicher Genuss. Die Figur selbst, sicher auf den Stock gestützt, ist im Bild nicht gefährdet. Er wird die Flussbiegung vor sich nicht überqueren, er wird die Landschaft und den Himmel noch etwas mit seiner Sehnsucht bevölkern und dann nach Hause zurückkehren. Ich mache mir um ihn keine Sorgen.
Ich kenne ihn, er ist wie ich.
Aber der Träumer da zwischen den Bäumen: Ich wünsche, nein, ich will, dass er noch etwas aushält und wagt, was ich nicht wage. Und dann soll er mich besuchen, als Vogel an mein Fenster klopfen, damit ich weiß, dass er es geschafft hat.
[Marcus Heim lebt als Fotograf und Nachteule in Paris.]
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Hannah Tzschentke: Ein Gruß aus dem Nebel. Meer. (zum Bild von Emilio González Sainz: Bonjour, Monsieur Courbet)
Das Bild Bonjour, Monsieur Courbet von Emilio González Sainz zeigt einen Spaziergänger am Meer, der Kleidung in den Farben des Nebels und des Strandes trägt, in der Hand seinen Wanderstock. Neben ihm steht sein nachtschwarzer Hund, an seinem Hals leuchtet ein karmesinrotes Halsband. Die letzten Pinselstriche sind gezogen, da beobachtet Sainz, wie der Spaziergänger im Nebel eine Erscheinung wahrnimmt. Dann bemerkt es auch der Hund: Was siehst du?, blickt ihn der Hund fragend an. Ich denke, es ist Monsieur Emilio González Sainz. Kaum hörbar flüstert es durch das Wellenrauschen: „Bonjour, Monsieur Courbet!“
Auf das Jahr 1854 datiert wird das Referenzwerk von Gustave Courbet. Das Selbstportrait "La rencontre ou Bonjour, Monsieur Courbet“ zeigt den Künstler, wie er zwei Wanderern begegnet, die ihn für sein Schaffen loben. Neben ihm sein Jagdhund. Sainz verwendete den Titel „Bonjour, Monsieur Courbet“ nicht nur für sein im Jahr 2020 geschaffenes Bild, sondern benannte gleich eine ganze Ausstellung danach. Denn bereits im Jahr 2013 war ihm Courbet beim Malen im Geiste erschienen. Laut Sainz ähneln künstlerisches Schaffen und der Schlaf einander sehr, somnambul öffnen sich Tore zur unbewussten Welt. Die Begegnung der beiden Künstler am Strand, das Spiegelbild wird zum Vexierbild, zum Blick auf den Künstlerstatus, zum Dialog mit der Kunsttradition. Aber wer ist eigentlich wer? Kommt es darauf an? Wir betrachten ein Bild, das über sich selbst nachdenkt.
Eine weitere Ebene spannt sich auf, die Stimmung und Motive erinnern an Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer: Der Wanderer fungiert als Vermittler zwischen Betrachtenden und der dargestellten Szenerie, eine Einladung zur Reflexion über den Menschen und seine Verbindung zur Natur, ein Raum, in dem sich der Mensch und sein Bewusstsein bewegen und verlieren können. Dabei symbolisiert der Nebel das Unbekannte, in dem Unbewusstes und Verborgenes ineinander verschlungen sind. Sainz lässt Courbet in diesen Nebel blicken, schaut als Künstler selbst aus diesem Nebel heraus. Oder umgekehrt? Kommt es darauf an?
[Hannah Tzschentke lebt als schreibende und bildende Künstlerin in Köln.]
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Sanna Konda: Die blaue Jacke (zum Bild von José Luis Mazarío: La chaqueta azul)
Ich habe gehört, dass die Bilder, die in der Alten Apotheke ausgestellt werden, Geschichten erzählen, also mache ich nach einem Cappuccino in der Alten Post einen sonntäglichen Abstecher dorthin. Ein Bild von José Luis Mazario hat es mir besonders angetan: Es ist die blaue Jacke, die so vom Tisch herabhängt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie ganz hinuntergleitet. Die blaue Jacke ist in einer fragilen Balance. Wer hat sie nur so achtlos dorthin geworfen? Außerhalb des Bildrandes dieses so stillen Bildes geht es vielleicht heiß her zwischen Menschen, die es eilig hatten, ihre Kleidung loszuwerden. Vielleicht flog dieses Kleidungsstück durch den ganzen Raum, bevor es auf dem Tisch landete.
Man möchte das ja denken. Es spricht nicht viel dafür. Ich hätte bessere Argumente, wäre die Jacke leidenschaftlich blutrot oder von gierigen Händen halb zerfetzt oder läge noch ein rasch abgestreiftes Unterhöschen am Boden, und wenn es nicht so still wäre im Bild. Es ist schwer zu sagen, ob diese Jacke kuschelig und wärmend ist, ihr Material ist mir ein Rätsel, sie könnte auch ein glattes, kühles und elegantes Jackett sein. Genauso schwer zu sagen ist, ob es warm oder kalt ist in dem Licht dieses Raumes, aber möglicherweise warm genug, um eine Jacke auszuziehen. Die ersten warmen Tage des Jahres nach einem langen melancholischen Winter, ja, das strahlt dieses blaue Kleidungsstück schon eher aus: Es ist ein Kokon gewesen für ein trauriges Herz umgeben von Kälte. Die Jacke in der Schwebe zwischen Ruhen und Fallen ist Ausdruck einer fragilen Seele.
Wo aber ist der Träger jetzt hin, hat er sich aus seinem Schutz befreit und ihn so achtlos hingeworfen, um ein paar warme Sonnenstrahlen direkt auf der Haut zu spüren, wo kurz zuvor noch das blaue Kleidungsstück wärmte, oder war der Winter zu lang für den fragilen Menschen gewesen? Er hat die Jacke ausgezogen und auf den Tisch gelegt. Er hat ihr keine Beachtung geschenkt, als sie halb hinunter rutschte. Seine Gedanken waren schwer und ganz woanders. Er würde die Jacke nicht mehr brauchen. Langsam ging er aus dem Bild und aus dem Leben. Das wäre eine Erklärung, warum es so still ist.