09.11.2023, Startseite
Wie ein Kind den Krieg erlebt
In „Radio Sarajevo“ schreibt Tijan Sila über seine Kindheit im Krieg. Der Autor hat sein Referendariat als Deutschlehrer am Gymnasium Walldorf absolviert.
Foto: Carl Hanser Verlag, München
Tijan Sila stellt sein neues Buch in der Stadtbücherei vor
„Radio Sarajevo“ ist sicher keine leichte Kost, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen und Kriege auf der Welt. Aber gerade deswegen ist es auch ein wichtiges Buch, das der Autor Tijan Sila in diesem Jahr veröffentlicht hat. Sila hat sein Referendariat als Deutschlehrer am Gymnasium Walldorf absolviert, hat 2017 seinen ersten Roman veröffentlicht und setzt sich in seinem neuen Buch mit seiner eigenen Kindheit auseinander. Eine Kindheit, die vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien geprägt war. Der Leser wird direkt hineingeworfen in eine Zeit, in der der Krieg beginnt: Es ist 1992 und der junge Tijan ist gerade zehn Jahre alt. Er lebt mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder in einer Plattenbausiedlung. Der Vater ist Dozent für Bibliothekswissenschaften, die Mutter Germanistin. Geachtet werden sie in der postkommunistisch geprägten Gesellschaft dafür nicht – im Gegenteil, die Nachbarn meiden sie, die Kinder leiden zum Glück zunächst nicht darunter. Aber auch das ändert sich im Krieg.
Wie soll man den Bosnienkrieg erklären, stellt Sila die Frage zu Beginn eines Kapitels, wohlwissend, dass hierzulande wahrscheinlich nur wenige die Komplexität dieses Kriegs erfassen können. Trotzdem versucht er, dem Leser einen Überblick über die Konflikte zwischen Ethnien, Religionen, Kriminellen und Nationalisten zu verschaffen, die sich Weg zur Gewalt bahnen. „Am Ende kämpfte jeder gegen jeden“, konstatiert Sila. Und so geraten vor allem Zivilisten sprichwörtlich ins Kreuzfeuer der Kämpfe. Sila beschreibt in seinem Buch eindrücklich, wie er als Kind den Krieg erlebt, wie sein Vater zunächst versichert, dass es bald vorüber ist und er am Ende fast drei Jahre in diesem Zustand leben muss, bevor seine Eltern entscheiden, nach Deutschland zu fliehen.
Sila bleibt bei seinen Schilderungen in dem Mikrokosmos, in dem er aufgewachsen ist, und lässt den Leser so an seinem Beispiel daran teilhaben, wie sich ein Kind und eine Gesellschaft im Alltag des Krieges verändern. „Wir stumpften immer mehr ab“, sagt der Autor an einer Stelle, denn im Krieg zu leben, bedeutete „Grauen auszuhalten“. Die erlebt der kleine Tijan zu Genüge: Er hört nicht nur die ständigen Detonationen, er sieht auch getötete Menschen und wird selbst angeschossen. Die Schulen sind monatelang geschlossen, das Kind lernt anhand der Heftigkeit der Einschläge, welche Kaliber zum Einsatz kommen und wie gezündeter Sprengstoff riecht. Ablenkung findet der kleine Tijan, wenn er Radio hören darf, was sich im Krieg aufgrund der allgemeinen Not schwierig gestaltet, und mit seinen engsten Freunden, mit denen er sogar Tauschgeschäfte mit UN-Soldaten erlebt.
Der Autor schreibt außerdem viel über das Familienleben, das schwierige Verhältnis zu seinen Eltern. Der Vater meidet zwar jede körperliche Konfrontation, die es in der damaligen Gesellschaft nicht selten gibt und Ausdruck von potenter Männlichkeit ist, zu Hause erleben die beiden Kinder jedoch keine gewaltfreie Erziehung. Trotz der willkürlichen Prügel durch den Vater versucht Tijan Sila, seine Beweggründe zu verstehen, was ihm nur selten gelingt. „Ich vermisse meinen Vater täglich, werde aber auch oft wütend, wenn ich an ihn denke“, beschreibt er sein noch heute ambivalentes Verhältnis zu ihm. Sila lässt einige Male anklingen, dass seine Eltern nach dem Krieg in Deutschland nicht mehr glücklich wurden: „Meine Eltern hatten den Krieg zwar überlebt, und doch vernichtete er sie am Ende.“
Hart zu sein wird in Silas Kindheit als positive Charaktereigenschaft angesehen, Gewalt als legitimes Mittel eingesetzt. Vor allem Kindern gegenüber. Die erfährt Sila etwa, als ein pensionierter Polizist als Lehrer eingesetzt wird, um den Schulunterricht wieder zu ermöglichen. Willkürliche Schläge sind Schulalltag. „Wer in unserem Land nicht rechtzeitig lernte, Zähne zu zeigen, wurde im Erdreich verscharrt“, fasst es der Autor zusammen. So wird in dem Buch schonungslos offengelegt, wie Kinder, die ständig Gewalt erfahren, abstumpfen und zu empathielosen Wesen werden. Das belastet auch die Beziehung zu Silas engsten Freunden, von denen er sich vor seiner Abreise nicht mal richtig verabschieden kann.
Info: Tijan Sila ist am Donnerstag, 16. November, zu Gast in der Stadtbücherei und wird dort um 20 Uhr sein Buch „Radio Sarajevo“ vorstellen.