29.11.2024, Kultur & Freizeit

Unaufgeregt und doch mitreißend

Sarah Brooks transportiert in ihrem Buch eine sympathische, altmodische Atmosphäre mit fantastischen Elementen.
Foto: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Entdeckungen – live:  „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ von Sarah Brooks

Am Donnerstag, 28. November, hat in der Stadtbücherei zum ersten Mal die Veranstaltung „Entdeckungen – live“ stattgefunden. Barbara Grabl, Gerhard König-Kurowski und Armin Rößler haben einige Titel aus dem riesigen Berg der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt in ganz persönlicher Art und Weise vorgestellt. Einen Teil ihrer Auswahl lassen wir für alle interessierten Leserinnen und Leser in der Rundschau nochmals mit Rezensionen Revue passieren. Zunächst wirft Armin Rößler hier einen Blick auf das „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“. Ein Nachbericht zur Veranstaltung folgt.

Der Klappentext des schön aufgemachten Romans verspricht Dramatisches: „Es heißt, diese Reise habe ihren Preis. Einen Preis, der über die Kosten des Tickets hinausgeht“, ist zu lesen und folgende Inhaltszusammenfassung: „Es ist das Ende des 19. Jahrhunderts, und nichts fasziniert die Menschen so sehr wie die geheimnisvollen und angsteinflößenden Wunder des Ödlands. Nichts berührt diese riesige, verlassene Wildnis zwischen China und Russland außer dem Transsibirien-Express, der jeden befördert, der es wagt, das Ödland zu durchqueren. Es gibt jedoch Gerüchte, dass der Zug nicht mehr sicher ist. Wer sich nun auf diese Reise begibt, hat seine ganz eigenen, verborgenen Gründe dafür: eine trauernde Frau mit fremdem Namen, ein Kind, das im Zug geboren wurde, und ein in Ungnade gefallener Naturforscher. Doch mehr und mehr scheint es, als würden die Gefahren des Ödlands ihren Weg ins Innere finden …

Diese Gefahren beschreibt niemand besser, als Valentin Rostow, der fiktive Autor des titelgebenden „Handbuchs für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“. Er schreibt in einem kurzen Abschnitt, gleichermaßen Einleitung seines Handbuchs als auch auf den ersten beiden Seiten des Romans zu finden: „Der vorsichtige Reisende mag allein bei der Erwähnung des Großsibirischen Ödlands zurückschrecken, eines so weiten, unwirtlichen Gebiets, um das sich zahllose Geschichten ranken, die allem widersprechen, was wir als gut und anständig und menschlich empfinden. Doch der Autor hat es sich in aller Bescheidenheit zum Ziel gesetzt, den Reisenden an die Hand zu nehmen und ihm als treuer Gefährte zur Seite zu stehen. Und wenn ich bisweilen selbst zu zaudern scheine, so deshalb, weil ich von meiner Wesensart ebenfalls vorsichtig bin und weil es während meiner Reise Augenblicke gab, da die Gräuel dort draußen mich zu überwältigen drohten und die Vernunft angesichts des Unbegreiflichen ins Wanken geriet.“

Es mag am Zug, dem Transsibirien-Express, liegen, dass es der Autorin Sarah Brooks gelingt, schon auf den ersten Seiten ihres Debüt-Romans eine wunderbar dichte Atmosphäre zu schaffen, die an die Stimmung der ersten Verfilmung aus dem Jahr 1974 von Agatha Christies Roman „Mord im Orient-Express“ erinnert: Da ist einerseits die luxuriöse, aber aus heutiger Sicht auch auf angenehme Art altmodisch wirkende Umgebung im Inneren des Zugs. Da ist dieser trotz der Größe des Zugs beschränkte Raum, der die Handlung wie ein Kammerspiel wirken lässt, das in kritischen Momenten auch klaustrophobische Züge bekommt, die – um einen weiteren Film-Vergleich zu wählen – an die Ausweglosigkeit des klassischen Raumschiff-Horrors à la „Alien“ denken lässt. Ähnlich wie im Weltall, in das es aus dem Raumschiff in einer bedrohlichen Situation kein Entkommen gibt, gestaltet sich hier die Lage mit dem bedrohlichen Ödland, durch das der Zug fährt. Und da sind natürlich die Figuren, die alle ihr ganz persönliches Geheimnis mit sich herumtragen, wobei sich die Autorin dankenswerterweise im Kern auf deutlich weniger Personen beschränkt, als das im erwähnten Krimi mit Hercule Poirot der Fall ist.

Sarah Brooks’ Sprache ist angenehm gelassen und gleichzeitig sehr stilsicher. Da fällt es manchmal tatsächlich schwer zu glauben, dass es sich beim „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ um den Debütroman der englischen Autorin handelt, die an der Universität Leeds Ostasienwissenschaften lehrt. Sie beweist ein ganz feines Händchen für ihr Setting, für ihre Personen und für ihre Erzählung, die irgendwo zwischen klassischem Reiseabenteuer und phantastischem Roman pendelt. Der Transsibirien-Express tritt im Jahr 1899 seine Reise von Peking nach Moskau an und birgt eine ganz eigene Welt in sich – es gibt eine Bibliothek und es wird Gemüse angebaut, es gibt ganz konventionell Speise- und Schlafwagen, aber auch den nur durch Spezialglas von der lebensfeindlichen Umwelt geschützten Aussichtswagen, der einen Blick in das geheimnisvolle, gefährliche Ödland bietet. Die Figuren sind fein gezeichnet: beispielsweise Maria Petrowna, eine Frau, die um ihren verstorbenen Mann zu trauern scheint, aber ein ganz anderes Geheimnis mit sich herumträgt, das mit dem Zug in engem Zusammenhang steht, und die mit der 20-tägigen Reise klare Ziele verfolgt. Da ist das Zugmädchen Weiwei, eine im Transsibirien-Express geborene Waise, durch deren Augen der Leser die Vielschichtigkeit der Zugwelt bestens vor Augen geführt bekommt – quer durch alle Klassen, Waggons und Gesellschaftsschichten, vom Personal bis zu den oft adeligen Reisenden; in diesen Eindrücken schwingt ein Hauch von „Snowpiercer“ mit, der französischen Graphic Novel von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette, die auch als Film und Fernsehserie Erfolge feierte. Und da ist der Naturforscher Henry Grey, der sich gerade in Fachkreisen mit einer haltlosen Theorie furchtbar blamiert hat und jetzt mit aller Macht seinen Ruf wieder herstellen will. Dazu kommen weitere wichtige und nicht ganz so wichtige Figuren: der Captain, die blinde Passagierin, der misstrauische Geistliche und einige mehr.

Ist das Ödland einmal erreicht, wird klar, dass die Autorin ihren Zug durch eine Welt schickt, die es so in unserer Realität nicht gibt: mit einer unheimlichen Fauna und Flora, die schon die letzte Reise des Gefährts, über die alle Beteiligten nicht ganz unfreiwillig den Mantel des Schweigens betten, zu einer – mindestens – Fast-Katastrophe hat werden lassen. Aber klar wird auch: Die finanziellen Interessen der Transsibirien-Kompagnie, des Unternehmens, das den Zug betreibt, zwingen diesen trotzdem auf seine nächste Reise.

Sarah Brooks erzählt unaufgeregt und doch mitreißend. Sie schafft und enthüllt Geheimnisse. Sie transportiert eine sympathische altmodische Atmosphäre, die von fantastischen Elementen durchbrochen wird, ein reizvoller Kontrast, der gut funktioniert. Ihr „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist tatsächlich eine Lektüre, die von Anfang bis Ende fesselt.

Sarah Brooks – Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
(C. Bertelsmann, 2024, ISBN? 3570105008, 415 Seiten, 24 Euro)