12.02.2025, Kultur & Freizeit

„Sag mir die Wahrheit über die Liebe“ – Ein Gedicht für den Weg

Aus dem Walldorfer Tagebuch von Gastkünstlerin Sanna Konda

An meinem zweiten Tag in Walldorf habe ich eine Veranstaltung mit dem Titel „Shared Reading“ besucht, die mir so gut gefallen hat, dass ich dieses monatliche Event in meinen Kalender einbaue, wann immer es möglich ist. Mit meinem zwischen ein bisschen zu vielen Lebensmittelpunkten hin- und hergerissenen Leben scheint es mir dann wie ein kleines Wunder, wenn ich, wie heute, mal wieder in der Stadtbücherei von Walldorf bin und der Stimme von Gerhard König-Kurowski lausche. Das Konzept des Abends ist denkbar einfach und jeder kann jederzeit einsteigen, Vorwissen oder Vorbereitung sind nicht notwendig. Man braucht lediglich offene Ohren. In drei Abschnitte aufgeteilt liest uns König-Kurowski eine Kurzgeschichte vor. Zwischen diesen Leseeinheiten sprechen wir über unsere Eindrücke von dem Text. Wir rätseln über den weiteren Verlauf der Geschichte und teilen unsere Einschätzung der Charaktere oder die Begeisterung für sprachliche Finessen miteinander.

Beim ersten Shared Reading, bei dem ich dabei war, saßen wir im August im Innenhof der Bücherei unter dem Blätterdach der Bäume, durch das einzelne Abendsonnenstrahlen schienen. Der Rest der Bevölkerung tummelte sich am Badesee. Wir lasen gemeinsam Tobias Wolfs Kurzgeschichte „In Erwartung weiterer Befehle“, deren Spannungsbogen uns ganz schön in Atem hielt. Der Zauber der Veranstaltung liegt in dem einfachen Prinzip, dass wir viel lernen, wenn wir unsere Beobachtungen und Gedanken zu einem Text teilen. Da entstehen ganz ungeahnte Perspektiven und plötzlich bekommt auch eine vielschichtige Geschichte noch ein paar Schichten dazu.

Ich kenne das natürlich von der Universität, diesen produktiven Austausch über die Lektüren (allerdings haben wir da alle schon zuhause den Text gelesen oder tun zumindest so). Das Shared Reading hat für mich den klaren Vorteil, dass ich hier nicht die Universitätsdozentin bin, auch nicht die Autorin oder Lektorin. Ich darf es mir hier in meiner Lieblingsrolle bequem machen und das ist die der Leserin. Dass uns vorgelesen wird, ist ein besonderes Vergnügen, ein kindliches fast. König-Kurowski nimmt sich die Zeit, ganz langsam unser Interesse für die Geschichte anzufachen, die uns in diesem Drei-Gänge-Menü von Buchstaben dargeboten wird. Das Vorlesen verlangsamt unsere Wahrnehmung der Welt und schärft gleichzeitig alle Sinne. Wir sitzen unter denselben Bäumen, haben dieselbe Stimme im Ohr, aber in unseren Köpfen entstehen unterschiedliche Bilder.

Am Anfang, nach der ersten Vorlese-Runde, sind wir noch schüchtern. Niemand muss etwas sagen, aber wie aus dem nichts entsteht aus einer Nachfrage oder dem Wunsch, einen Eindruck zu teilen, doch ein Gespräch. Und die blitzeblauen Augen von König-Kurowski lächeln immer zustimmend und lassen alles gelten. Deswegen fällt uns allen immer noch etwas ein, bevor das Gespräch doch wieder verstummt, weil wir so neugierig auf den nächsten Teil der Geschichte sind. Nach dem zweiten und dritten Vorlesen sind wir nicht mehr schüchtern. Da wartet schon in jedem Menschen etwas, das dringend gesagt werden will, eine ganz eigene Interpretation, jede hat ihre Berechtigung. Am Ende der Veranstaltung haben wir aus einer Kurzgeschichte einen Diamanten gebaut, in dem alle Perspektiven enthalten sind. Wir haben aber auch etwas über das Denken und Fühlen der Anderen gelernt und die verblüffende Erfahrung gemacht, dass unsere Wahrnehmungen sich ähneln oder ganz verschieden voneinander sein können. Auch die Differenzen zu erkennen, verbindet uns miteinander. Es ist schön, dass wir darüber gesprochen haben; eine kleine Gemeinschaft hat sich gebildet.

Zum Abschied wird uns wie ein Weg-Bier ein Gedicht mitgegeben – uns es ist mindestens genauso berauschend. Das Gedicht wird zwar noch vorgelesen, wir sprechen aber nicht mehr darüber. Manchmal muss doch noch jemand schnell sagen, dass die Kurzgeschichte und das Gedicht sehr gut zusammenpassen. Oder zwei ältere Damen empören sich auf dem sich in die Länge ziehenden Weg von drei Treppen in der Bücherei (im Winter sitzen wir gemütlich ganz oben unter dem Dach) über die kryptische Form des Gedichts. Wie kann das sein, dass in Rose Ausländers Gedicht „Chance“ dem Fels Flügel wachsen? Da müssten wir doch wirklich noch drüber reden!

Das jeweilige Gedicht hallt auf dem Heimweg in unseren Köpfen nach. Auch ich bringe manchmal Gesprächsbedarf mit nach Hause. Eines der Gedichte hat mich tief beeindruckt, es heißt: Sag mir die Wahrheit über die Liebe. Ich lese es meinem Mann vor, der in meiner Künstlerwohnung mit einem Buch auf der Couch liegt, neben ihm ein Glas Wein. Ich lese erst auf Deutsch und dann improvisiere ich eine sehr schlechte Übersetzung für ihn ins Englische. Er guckt irritiert. Das klingt schön, sagt er, aber er verstehe nicht alles. Er deutet leise an, dass meine Übersetzung möglicherweise Murks ist. Vielleicht hat das Internet eine bessere. Er fragt mich nach dem Namen des Autors. Ich drehe das Blatt mit dem Gedicht um, auf der Rückseite steht: W. H. Auden: Tell me the truth about love.

Mein Mann empört sich so darüber, dass wir in einer deutschen Bücherei englische Poesie lesen und ich ihn noch dazu mit einer verqueren Rückübersetzung belästige, dass er von der Couch aufspringt. Ich schiele kurz nach der Weinflasche, um zu gucken, wie viel davon schon getrunken wurde. Er findet das Original sofort im Internet. Die eine Hand mit dem Smartphone bewegungslos vor den Augen, die andere wild gestikulierend, tigert mein Mann durch die Künstlerwohnung und rezitiert lautstark das Gedicht. Es ist das zweite Mal an diesem Tag, dass mir ein Mann mit blitzblauen Augen zum Vorleser wird. Ich nehme einen Schluck aus dem Weinglas meines verrückten Mannes und genieße die Szene. Für einen Moment bin ich die Lucile aus Büchners „Dantons Tod“: Ich höre nicht richtig hin und doch höre und lausche und schaue ich. Einen Moment lang habe ich meinen Redebedarf ganz vergessen, da sind gar keine Fragen mehr zur Wahrheit über die Liebe.