02.10.2024, Startseite
Musiktage mit Vögeln und Walen
Gastkünstlerin Sanna Konda im Gespräch mit Timo Jouko Herrmann, dem Leiter der Musiktage.
Foto: Helmut Pfeifer
Gastkünstlerin Sanna Konda entdeckt die klassische Musik - Aus dem "Walldorfer Tagebuch"
Obwohl ich glaube, dass ich die klassische Musik für mich noch entdecken werde, muss ich gestehen, dass ich sie bisher noch nicht entdeckt habe. Meine beiden Besuche der Walldorfer Musiktage entspringen also einem sehr vagen und nicht einem konkreten Interesse. Und wieder einmal zeigt sich, dass man belohnt wird, wenn man sich ein bisschen über den eigenen Tellerrand hinauswagt.
Am Mittwochabend gehe ich ins Rathaus. Ohne Vorkenntnisse, ohne irgendein Wissen, bloß mit einer großen Portion Neugier ausgestattet. Dass die Musik mich begeistert, ja, ich würde gerne behaupten, dass das der Musik zu verdanken sei. Beigetragen hat dazu aber ganz elementar Timo Herrmann, der die Musiktage initiiert hat und virtuos moderiert. Alle Gäste lauschen ihm ebenso hingegeben wie der Musik. Was er sagt, ist nicht nur klug und mitreißend, er vermittelt die Musik im allerbesten Sinne.
Uns wird erzählt, dass Franz Xaver Richter Selbstaussagen zufolge – ausgerechnet in Briefen an seinen Vater – täglich so ungefähr zwanzig bis vierzig Flaschen Wein getrunken hat, und plötzlich öffnen sich unsere Ohren für den Exzess in der Musik. Das Bild des Trinkers reizt uns – so humorvoll und nonchalant es dargeboten wird –, die sich entfaltende musikalische Ekstase in ihrer vollen Spannweite wahrzunehmen.
So kommt es, dass ich am Freitag auch in die Laurentiuskapelle gehe. Ich genieße die Musik wie nie zuvor und wieder hat der Vermittler seine Hände im Spiel: Er erzählt uns von der Frau, von deren Schönheit kein Bild, sondern nur diese Musik Zeugnis gibt. Das schärft das Hören nicht nur, es verknüpft es mit unserer Imagination. Und in einer Anekdote wird hier Georg Joseph Vogler als genialer, aber komischer Kauz erschaffen, der einen von ihm eigenhändig gezähmten Star auf seiner Schulter spazieren führt. Hören wir diese liebenswerte Verschrobenheit in den Melodien, die dann folgen?
Mir fällt eine alte Legende ein, der zufolge ein Komponist in hohem Alter nur noch ein und dasselbe Lied spielt. Seine Frau verlässt manchmal schon fluchtartig das Haus. Jedenfalls spielt er seine eigene Komposition und nichts anderes mehr und natürlich spielt er auswendig. Nach seinem Tod fehlt dieses Lied, das zuvor fast ein Fluch gewesen war, den Menschen; sie suchen nach den Noten und werden nicht fündig. Eines Tages wird ein Komponist, der auf der Suche nach dem verschollenen Lied dieses großen verstorbenen Meisters von weither angereist ist, auf die Stare im Baum vor dem Musikzimmer aufmerksam. Sie flöten das verloren geglaubte Stück. Er lauscht und schreibt die Noten nieder.
Stare können das. Sie können fast alles nachahmen und sie machen sich sogar einen Spaß daraus, Menschen mit dem Imitieren der Geräusche von sich verriegelnden oder öffnenden Autos ebenso wie deren Alarmanlagen zu veräppeln. Ich würde ihnen sogar zutrauen, Katzen zu imitieren, um andere Vögel zu verjagen. Auch haben Stare ein hervorragendes Gedächtnis für Melodien. In Ostfriesland sind diese wunschschön schillernden Vögel vor allem für ihre Formationen bekannt – "murmuration of starlings" heißt im Englischen eine Schar Stare und darin klingt für mich das Bild der Vögel in der Luft schon an. Auf Island sind die Stare weniger für ihren formschönen Flug als ihre Trunksucht bekannt, die der des Komponisten mit den unzähligen Weinflaschen in nichts nachsteht.
In der Nacht, in der ich meinen Mann kennengelernt hatte, stand ich auf dem Heimweg im ersten Morgengrauen vor einem sehr seltsam zwitschernden Baum im menschenleeren Stadtzentrum von Reykjavik. Das Stimmengewirr der Bar, aus der ich kam, glich der Kakophonie der Stare, die in diesem Baum zwischen Beeren saßen, die offensichtlich schon Frost abbekommen und Alkohol gebildet hatten. Für meine verliebten Sinne gab es keinen schöneren Klang als den wilden Gesang dieser ekstatischen Stare. Und heute Abend in der Laurentiuskapelle kommt es mir so vor, als würde die menschliche Musik sich mit dem Zwitschern von Vögeln und dem Singen von Walen messen wollen.
Da fällt mir eine weitere Legende ein, die sich bei der späteren Recherche als ausgesprochen fundiert erweist: 1984 waren ein paar tausend Belugawale – das sind die weißen Wale, die für eine Laiin wie mich ein bisschen aussehen wie einem Märchen entsprungene Albino-Delphine – im Packeis der Tschuktschin-See gefangen und fanden immer weniger Öffnungen in Eis zum Atemholen. Ihre Lage war verzweifelt. Ein Eisbrecher versuchte, die Wale zu befreien, aber diese folgten dem Schiff nicht, das ihnen einen schmalen Kanal ins Eis gebrochen hatte. Erst als die Crew des Schiffes über Lautsprecher Tschaikowsky spielte, folgten die Wale dem Eisbrecher und fanden ihren Weg zurück in die offene See.