09.11.2022, Startseite
„Ihr sollt nicht weinen über den Holocaust, aber davon wissen“
Zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 sprach die Auschwitz-Überlende Eva Umlauf (vorne, 4.v.re.) vor Schülern des Walldorfer Gymnasiums. Mit im Bild (v.li.) Bürgermeister-Stellvertreter Fredy Kempf, Lehrer Alexander Hahn, die Schülersprecher Joschua Schweinfurt und Csilla Mesteri, Stefan Reuter als Vertreter der Schulleitung, Schülersprecher Philipp Siebenmorgen und Neithard Dahlen, Vertreter des Auschwitz-Komitees.
Foto: Stadt Walldorf
Auschwitz-Überlebende Eva Umlauf spricht vor Schülern des Gymnasiums
„Warum haben wir überlebt?“, fragt Eva Umlauf. Die Antwort ist so banal wie unwahrscheinlich. „Weil die Lok kaputtgegangen ist, der Zug hat sich verspätet.“ Um genau drei Tage, die mehreren hundert Menschen das Leben gerettet haben. Denn noch am 31. Oktober 1944 waren im Konzentrationslager Auschwitz 1200 Neuankömmlinge aus Theresienstadt „ins Gas geschickt“ worden, wie es Eva Umlauf ausdrückt. „Uns konnten die nicht mehr“, sagt sie, hatten die Nazis doch, um angesichts der näher rückenden Roten Armee so viele Spuren wie möglich zu verwischen, inzwischen die Gaskammern in die Luft gesprengt. „Es war Zufall, es war Glück, es war Gottes Wille – ich weiß es nicht“, sinniert die überlebende Jüdin. „Historiker sagen, wir waren der glückliche Zug.“ Auch wenn die Bezeichnung zynisch klinge, seien immerhin 60 Kinder im Transport gewesen, „einige leben noch“, ob in Deutschland oder Israel, „ich bin mit vielen in Kontakt“.
Die heute 79-Jährige ist in der Slowakei aufgewachsen, 1967 mit ihrem damaligen Mann nach München gezogen, dreifache Mutter, Kinderärztin und Psychotherapeutin. Sie erzählt ruhig, aber fesselnd über ihr Schicksal, lässt auch Humor durchblitzen. Nur einmal bricht ihre Stimme: Als sie erzählt, dass sie nur an den Tagen in die Synagoge gehe, wenn man das Totengebet spricht. „Das ist mir ganz wichtig“, sagt sie, legt eine Pause ein und wirkt mitgenommen von den schmerzhaften Erinnerungen.
Eva Umlauf redet in der Astoria-Halle zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 genau 84 Jahre später vor den über 200 Schülern der beiden Kursstufen des Gymnasiums Walldorf. Sie selbst war am Tag, an dem „die Verfolgung der Juden volle Fahrt aufgenommen hat“, noch nicht geboren. Als Eva-Maria Hecht ist sie am 19. Dezember 1942 im Arbeitslager Nováky in der Slowakischen Republik zur Welt gekommen und 23 Monate später im KZ Auschwitz gelandet. „Ich bin eine der jüngsten Auschwitz-Überlebenden“, sagt sie, „vielleicht die jüngste mit einer Nummer“. Auschwitz, so erfahren die gebannt lauschenden Schüler, war das einzige Vernichtungslager, in dem die Nazis ihre Opfer tätowiert haben. „Ich habe keine Erinnerung, glaube aber, die Nadel zu spüren“, sagt Eva Umlauf über den Moment, den sie nur aus den Erzählungen ihrer Mutter kennt und in ihrem Buch („Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“) niedergeschrieben hat, aus dem sie immer wieder Passagen vorliest. „Du schriest kurz auf, dann hörtest du auf zu atmen. Dein Gesicht lief blau an, und auf einmal sacktest du ohnmächtig zusammen.“ Ein respiratorischer Affektkrampf, diagnostiziert die Kinderärztin heute nüchtern diese emotionale Schilderung aus Sicht ihrer Mutter. Schon bald habe sie wieder regelmäßig geatmet.
Über ihre Nummer A26959 sagt sie, die Farbe sei inzwischen blassblau, kaum mehr erkennbar, wenn man nur flüchtig hinschaue. Eva Umlauf spricht von der „Funktion als vollkommene Entmenschlichung“, manche Überlebende hätten sie wegoperieren lassen, heute könne man sie narbenfrei entfernen. „Ich erinnere meinen Körper nur mit dieser Nummer“, sagt sie. „Sie gehört zu mir, sie verbindet mich mit meinen Schicksalsgenossen.“ Und mit ihrer Mutter, auf deren „8“ ihre „9“ gefolgt sei, ein Zeichen, „dass wir zusammengehören“. Für Eva Umlauf „mein persönliches Mahnmal“ oder, in den Worten der Holocaust-Überlebenden und Schriftstellerin Ruth Klüger, „Totenehrung und Lebensbejahung in einem“. Später sagt sie auf die Frage einer Schülerin: „Ich schaue nicht mehr auf die Nummer, sie ist ein Teil von mir.“ Und: „Ich ärgere mich eher über graue Haare.“
Als Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee befreit wurde, seien die Überlebenden „nicht transportfähig“ gewesen, „wir waren krank“. Ihre Mutter habe Gelbsucht gehabt und sei im siebten Monat schwanger gewesen. „Es herrschte Chaos“, habe diese 1965 einem Reporter erzählt. Viele seien doch noch gestorben, es habe nichts zu essen gegeben. „Wir sind in Auschwitz geblieben, bis wir einigermaßen gesund waren“, berichtet Eva Umlauf. Ihre Schwester, im April geboren, hat als Geburtsort Auschwitz im Pass stehen, ihr Vater dagegen, getrennt von seiner Familie, wurde im März auf dem Todesmarsch erschossen, „weil er nicht mehr weitergehen konnte“. Ihre Mutter zog es mit den beiden Töchtern zurück in die Slowakei. „Sie hat als einzige ihrer großen Familie überlebt.“ Eva Umlauf sagt: „Was mir immer sehr gefehlt hat, waren eine Großmutter, eine Tante, Cousinen.“ Sie habe gewusst, dass alle ermordet worden seien, die Tragweite aber nicht begriffen. Und sie habe andere Kinder beneidet, „die in den Ferien zur Oma gefahren sind“. Ihre Mutter sei nach dem Krieg 21 Jahre alt gewesen, allein, „Witwe, mit zwei Kindern, ohne Beruf, ohne Schutz von ihrem Ehemann“. Auch Eva Umlaufs Schwester ist Ärztin geworden, sie lebt seit 1968 ebenfalls in Deutschland. „Wir haben das Leben scheinbar gepackt“, meint die Überlebende.
„Ich kam ins Land der Täter“, sagt sie über ihre Heirat und den Umzug „der Liebe wegen“ nach München, etwas, das sie sich vorher „in Gedanken schwer vorstellen“ konnte. Anfangs habe sie kaum Kontakt zu Deutschen gehabt, „nur mit Juden“. Erst nach dem „nächsten Bruch“ in ihrem Leben, dem Unfalltod ihres Manns, habe sie mehr Anschluss an die Kolleginnen bekommen, sei „allmählich in die Gesellschaft“ gekommen. Später habe sie unter anderem Tennisspielen und Skifahren gelernt. „Ich wurde erwachsen“, sagt sie und: „In München lebt es sich schön und ich bin zufrieden.“ Gleichzeitig mahnt Eva Umlauf vor wieder aufkommendem Antisemitismus: Dass Synagogen von der Polizei geschützt werden müssen, macht sie mehr als nur nachdenklich. „Ich habe noch vor keiner Kirche in Deutschland ein Polizeiauto gesehen.“ Was sich in Deutschland, Europa und auch den USA abspiele, sei „nicht zu verstehen“. Eva Umlauf spricht vom Rechtsruck, dem wachsenden Antisemitismus und den „Schrecklichkeiten im Krieg“ in der Ukraine. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch einmal erlebe.“ Ihre jungen Zuhörer fordert sie auf, „mit offenen Augen durchs Leben“ zu gehen und die Demokratie zu schützen. „Das ist nicht alles selbstverständlich.“ Und: „Ihr alle sollt nicht ewig weinen über den Holocaust, aber davon wissen. Das ist keine Schuldzuweisung, aber die Verantwortung, dass sich diese Geschichte niemals wiederholt.“
Am Ende einer regen Fragerunde, in der die Schüler viele kluge Fragen stellen, haben die Schülersprecher Csilla Mesteri, Joschua Schweinfurt und Philipp Siebenmorgen zwei kleine Geschenke und ein großes Dankeschön für Eva Umlauf. Für die Schulleitung hat am Beginn der Veranstaltung Stefan Reuter die Begrüßung übernommen und neben der Stadt, für die Bürgermeister-Stellvertreter Fredy Kempf anwesend ist, auch dem Elternbeirat gedankt sowie der Klasse 6f, die die vielen Stühle in der Astoria-Halle aufgebaut hat. Er erinnert an die Brutalität der Pogromnacht 1938, diese sei „ein Fanal“ gewesen und habe auf die Shoa vorausgewiesen. Neithard Dahlen, Vertreter des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland, sagt: „Das Gedenken prägt auch die eigene Haltung.“ Ethische Werte seien nicht selbstverständlich, „wir müssen sie uns jeden Tag neu erarbeiten“. Und er stellt die unangenehme Frage: „Hätte ich selbst SS-Täter sein können?“ Seine Antwort: „Natürlich.“ Das sehe man aktuell in der Ukraine. „Jeder Mensch kann Täter werden.“ Lehrer Alexander Hahn, der den spannenden Vormittag federführend organisiert hat, nennt Eva Umlauf eine „Zeitenzeugin“, die nicht nur über den Holocaust spreche, sondern auch darüber, „was Auschwitz aus ihr gemacht hat“. Und: „Ihr habt das Glück, noch eine Zeitzeugin zu erleben.“ Damit würden die Schüler selbst zu Zeitzeugen. „Nehmt diese Verantwortung wahr“, appelliert Hahn.