23.11.2023, Startseite
Die Täter sollen beim Namen genannt werden
Andy Herrmann hat für sein Buch viele Jahre lang gewissenhaft recherchiert.
Foto: Stadt Walldorf
Andy Herrmann über sein neues Buch „Walldorf im Nationalsozialismus"
Am Sonntag, 3. Dezember, stellt Andy Herrmann um 17 Uhr sein Buch „Walldorf im Nationalsozialismus – Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand in einer nordbadischen Kleinstadt“ im Museum im Astorhaus vor. Im Interview spricht Herrmann über den Inhalt des Buches und seine Beweggründe es zu schreiben.
Herr Herrmann, in ihrem Buch beleuchten Sie Walldorf zur Zeit des Nationalsozialismus. Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema?
Andy Herrmann: Das Thema ist für mich eigentlich schon sehr lange interessant und spannend. Ich bin durch meine Großtante Liesel Litterer dazu gekommen. Sie hat das NS-Regime miterlebt, war sehr an dem Thema dran und hatte auch Kontakt zu ehemaligen jüdischen Walldorfer Mitbürgern. Und ihr Mann, Konrad Litterer, übrigens einer der Mitgründer der Vereinigung Walldorfer Heimatfreunde, saß in der NS-Zeit im Gefängnis. Das war für mich ein ausschlaggebender Punkt. Nach dem Tod meiner Tante 2001, haben wir in ihrem Haus einen großen Ordner mit Prozessakten aus dem Jahr 1935 gefunden. In den Akten war sehr viel Interessantes drin. Für mich war es Motivation, da ein wenig genauer nachzuschauen: Welche Personen sind darin erwähnt, wer spielte da eine Rolle, sind auch Täter erwähnt?
Wie kamen Sie zu dem Entschluss, ein Buch darüber diese Zeit zu schreiben?
Was mich immer so ein bisschen gestört hat, dass alle Publikationen, die es über die Zeit gab, immer sehr rudimentär, bruchstückhaft, ohne Klartext waren.
Wann haben Sie mit dem Buch angefangen?
Es gab verschiedene Phasen. Wirklich intensiv damit beschäftigt habe ich mich 2018 und bin dann auch auf die Idee gekommen, etwas zu publizieren. Da habe ich das erste Mal einen Stadtrundgang zum Thema „Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand“ vorbereitet, das ist ja auch der Untertitel des Buches, weil mich gerade die Frühphase der NS-Zeit extrem interessiert hat. Nach dem ersten Stadtrundgang kamen einige Leute auf mich zu, die mir noch einige Geschichten und Namen zugetragen haben. Da habe ich dann gedacht, es lohnt sich, das ein bisschen weiter zu recherchieren. Ein Jahr später habe ich noch einen Rundgang gemacht und dann war klar, ich muss da was schreiben. Das war Anfang 2020. Der Plan war eigentlich zunächst, einen Vortrag zum Thema „Widerstand in Walldorf“ im JUMP zu machen. Der wurde aber wegen Corona abgesagt. Dann habe ich mich in die tiefergehende Recherche gestürzt.
Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Ich konnte zum Beispiel auf das Archiv meines Onkels Dieter Herrmann zugreifen, der viel zu jüdischem Leben recherchiert hat, auch zur NS-Zeit. Ich habe dann viel in Zeitungsquellen nachgeschaut. „Die Volksgemeinschaft“ aus Heidelberg etwa kann man über die Heidelberger Uni einsehen. Die Zeitungen jener Zeit waren natürlich politisch eingefärbt, da muss man gewisse Abstriche machen. Der nächste Schritt war, die Akten im Generallandesarchiv in Karlsruhe zu sichten. Das waren die Wiedergutmachungsakten, für Leute die damals im KZ oder Gefängnis saßen, sowie die Spruchkammerakten aus den Entnazifizierungsverfahren. Da finden sich rund 450 Personen aus Walldorf, gegen die so ein Verfahren eingeleitet wurde. Ich habe mich auf die wichtigsten Funktionäre der NSDAP fokussiert. Darüber bin ich dann wiederum bei Strafprozessakten gelandet, beispielsweise zum Pogrom von 1938.
Konnten Sie noch mit Zeitzeugen sprechen?
Ja, Gespräche gab es tatsächlich. Zum einen hat meine Großtante einiges erzählt und auch aufgeschrieben. Ich habe zum Beispiel auch mit Irma Durst gesprochen, die Tochter vom ehemaligen KPD-Stadtrat Hans Winnes. Er war einer der ersten Walldorfer, der im KZ Kislau eingesperrt wurde. Mit Frau Durst habe ich 2019 ein sehr langes Gespräch geführt, in dem sie aus ihrer Kindheit erzählt hat. Es war beeindruckend zu erleben, dass sie von den Erlebnissen damals mit über 90 Jahren immer noch traumatisiert war. Sie hat mir einiges über ihren Vater erzählt, was nicht aktenkundig ist.
Gab es etwas, das Sie im Laufe der Recherche überrascht hat?
Ich habe mir die Spruchkammerakten und weitere Infos zu den beiden Ortsgruppenleitern der NSDAP genauer angeschaut - das war Emil Kempf und sein späterer Nachfolger Emil Schweinfurth. Und worauf ich dann bei der Recherche gestoßen bin, dass Kempf tatsächlich von parteiinternen Kritikern abgesägt wurde und der Vorwand war: Er habe sich in betrunkenem Zustand auf einem Foto mit Juden ablichten lassen. Sein Stellvertreter wurde dann sein Nachfolger. Und über diesen habe ich aus Gesprächen dann immer rausgehört, dass er ein schlimmer Nazi gewesen sein soll. Was aber laut Aktenlage nicht der Fall gewesen sein soll, und mich total überrascht hat. Beide Ortsgruppenleiter waren Vertreter des verbrecherischen Regimes, haben sich jedoch – so zumindest die Akten – nicht maßgeblich an Gewalttaten beteiligt oder sind dadurch hervorgetreten, politische Gegner oder jüdische Einwohner besonders zu schikanieren. Ich hatte eigentlich etwas anderes erwartet. Nichtsdestotrotz haben sie beide das System vor Ort als lokale „Führer“ repräsentiert und ideologische Vorgaben umgesetzt.
Haben Sie mit dem Buch ein bestimmtes Anliegen?
Das erste Anliegen war, dass ich diese Zeit gezielt beleuchten wollte, auch um damit Schluss zu machen, dass über die Täter nur verschämt und hinter vorgehaltener Hand geredet wurde. Das hat man jetzt wirklich über viele Jahrzehnte so praktiziert. Das war wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass Täter teilweise noch gelebt haben. Es gab immer Gerüchte, vieles wurde kleingeredet oder verschwiegen. Ich finde, man muss sich an dieser Stelle seiner Familiengeschichte stellen. Ich hatte in meiner Familie auch Leute, die das NS-Regime gut fanden. Das zweite ist, den Leuten klarzumachen, wie schnell es gehen kann, dass man in demokratischen Verhältnissen eine Situation bekommt, in der plötzlich eine bestimmte Partei die Macht bekommt und wie diese sie festigen kann und das ganze System dann kippt.
Herr Herrmann, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Buch „Walldorf im Nationalsozialismus – Gleichschaltung, Verfolgung, Widerstand in einer nordbadischen Kleinstadt" ist im Verlag Regionalkultur erschienen und ist für 19,90 Euro im Handel erhältlich.
Im Rahmen der Buchveröffentlichung gibt es am Freitag, 24. November, einen Stadtrundgang, der um 18 Uhr am Schlossplatz startet. Thema wird „Walldorf im Nationalsozialismus – Widerstand" sein.